Bewertung der Willensfreiheit


Inhalt:
- Fatalismus
- Erkenntnis und Emotion
- Einsteinsche Toleranz?
- Vorrang der Empfindung

Wie bereits dargestellt, ist die klassische - oder besser: kindliche - Vorstellung vom Willen unter verschiedenen Gesichtspunkten unhaltbar.

Neben der Stellung der Welt im Universum und des Menschen im Tierreich liegt eine weitere freudsche Kränkung in dem Umstand, dass der Mensch hauptsächlich von seinem Unterbewusstsein bestimmt wird, ja bei genauer Überlegung keinen Willen hat, der im klassischen Sinne als frei zu verstehen ist. Tatsächlich verursacht diese Vorstellung bei den meisten Menschen Unbehagen. Nietzsche ging sogar davon aus, man müsse diese Vorstellung überhaupt erst einmal „aushalten“ können.

Hat man letzteres einmal rational reflektiert, ändert dies nichts an der subjektiven Wahrnehmung des Willens als frei: Die Ursachen der eigenen Gedanken sind nicht emotional und intuitiv wahrnehmbar, sie sind nicht fühlbar. Das tägliche Leben wird daher nur in der Konsequenz dessen beeinträchtigt, was der Mensch will. Der Mensch sieht sich aber in seiner Willensentscheidung in keinerlei Hinsicht eingeschränkt.

Fatalismus
Erst recht ergeben sich keine fatalistischen Konsequenzen: Als Fatalismus wird die Depressive Lethargie bezeichnet, von der einige Kreise mit deterministischem Weltbild befallen sind. Diese Kreise nehmen jedoch religiöse Komponenten in ihre Vorstellung auf: Sie nehmen an, das Schicksal zu kennen, ihren Berufs- und Lebensweg mit der Einstellung, nichts daran ändern zu können. Tatsächlich ist der eigene Lebensweg insbesondere wegen der Unberechenbarkeit menschlicher Willensentscheidungen keineswegs berechenbar, so dass er faktisch als offen wahrgenommen wird. Das Feststehen spielt bei richtiger Überlegung keinerlei praktische Rolle.

Abegsehen von den Schlussfolgerungen aus einzelnen Determinanten hat die Erkenntnis eines deterministischen Weltbildes keinerlei praktische Auswirkungen. Alle anderen Behauptungen beruhen regelmäßig auf Fehlschlüssen.

Erkenntnis und Emotion
Eine Frage wäre insofern, wie mit dem an Schizophrenie grenzenden Auseinanderfallen von Wahrnehmung und rational erkennbarer Realität umzugehen ist, wie dieser Umstand emotional einzuordnen ist. Die Vorstellung wird von den meisten Menschen als unbehaglich eingestuft. Die Frage wäre also, ob eine bewusste autosuggestive Förderung der Vorstellung vom tatsächlich freien Willen hilfreich sein kann. Eine solche Suggestion kann durchaus vereinbar sein mit der positiven Vorstellung, mit jeder Handlung auf lange Kausalketten einzuwirken. Der Mensch kann sich geradezu berauschen an der scheinbaren Macht, die in dieser Erkenntnis liegt. Auch ohne Suggestion nimmt der Determinist aber letztendlich keine Ursachen seiner eigenen Willensentscheidungen war. Wenn er also nicht dauerhaft an den Determinismus denkt, unterliegt er quasi einer angeborenen Suggestion.

Es lässt sich wohl sagen, dass die Vorstellung des unfreien Willens nur dann destruktiv und unbehaglich wird, wenn der Blick auf die Vergangenheit, also auf die bereits gesetzten Ursachen gerichtet wird. Ein solcher Blick ist nur sinnvoll, wenn daraus Erkenntnisse bezüglich der Zukunft gezogen werden können, wenn aus diesem Blickwinkel etwas hinzugelernt werden kann. Nur dann ist der Blick zurück für die Gestaltung des Lebens, für Fortkommen und Glück konstruktiv. Überhaupt ist die Verknüpfung der kausalen Denkweise mit dem Blick auf die Zukunft nicht negativ belastet, weil er eben erkennen hilft, welche Schritte zur Erreichung der gewünschten Ziele erforderlich sind. In dieser Form kann die Vorstellung sogar dem Fatalismus entgegen wirken, weil der Mensch besser erkennen kann, wie er auf seine Zukunft Einfluss nimmt - und in aller Regel wird Frust und Lethargie gerade in den Bereichen ausgeprägt, in denen der Mensch glaubt, keinen Einfluss nehmen zu können.

Einsteinsche Toleranz?
Hat diese Vorstellung aber einen Einfluss auf den Umgang mit den Verfehlungen anderer Menschen, können wir diese leichter vergeben, wie Einstein meinte? Tatsächlich ist der Zorn gegenüber einem Angreifer ein angeborener Automatismus, der in einem angemessenen Maße präventiv wirkt gegenüber  weiteren Übeltaten des Gegners in der Zukunft. Durch das rationale Verstehen kann tatsächlich die eigene Emotion gedämpft werden, durch das rationale Erkennen der Unsinnigkeit dieser Emotion. Wie könnte man letzeteres aber tatsächlich behaupten wollen, liegt doch in dem angeborenen Mechanismus eine ausgefeilte Selbstschutzfunktion, die selbst bei Tieren ausgeprägt vorhanden ist, wie Richard Dawkins in „Das egoistische Gen“ darstellte. Ein Angriff, der nicht sanktioniert wird, verleitet geradezu zu weiteren Angriffen. Wenn Einstein meint, die Erkenntnis des Determinismus sei eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz, so verabschiedet er sich von jedem Selbstschutzmechanismus und von den eigenen Interessen. Eine verstandsbedingte Unterdrückung der eigenen Emotionen aus der Erkenntnis, dass der Angreifer „nichts dafür kann“ im eigentlichen Sinne, ist also gar nicht angebracht - es sei denn, der Mensch ist zu einer Sanktionierung nicht in der Lage und leidet unter diesem Umstand, nur dann wäre eine rationale Verarbeitung dieser Emotion vielleicht einmal angezeigt.

Die einsteinsche Toleranz würde nicht nur bedeuten, Angriffe in einem gewissen Maße zu tolerieren oder zu relativieren, sondern sie würde auch bedeuten, dass der Mensch in eben dem Maße Zuneigung, Liebe, Geschenke etc. relativieren müsste, weil auch hier der Mensch „nichts dafür“ kann. Letztendlich beruhen natürlich auch Dank und Liebe auf Lebensinstinkten, die dem Bestand der eigenen Gene förderlich sind. Es besteht aber gar kein Anlass, derart nützliche Instinkte durch rationale Erkenntnis unterdrücken zu wollen. Letztendlich muss die Emotion durch die Erkenntnis ihrer Ursachen in ihrer Intensität gar nicht beeinträchtigt werden, ebensowenig wie der Genuss eines Sonnenuntergangs beeinträchtigt wird durch die Erkenntnis, dass es sich nur um ein bestimmtes Lichtsprektrum handelt. Wer sich hierbei allerdings auf die Lichtquantentheorie konzentriert, statt auf den Sonnenuntergang zu genießen, der hat anscheinend zu lange am Schreibtisch gesessen - oder wie schon Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf sagte: „Zu viel Gelehrsamkeit kann selbst den Gesündesten kaputt machen!“

Letztendlich lässt sich sagen, dass die Vorstellung für das tägliche Leben nicht produktiv ist. Sie wird daher im Normalfall des täglichen Lebens ganz von selbst unerheblich. Wir erkennen, dass bestimmte Handlungen etwas bewirken, also führen wir sie aus. Das ist die Überlegung, die für unser Handeln wesentlich ist, nicht die Frage, warum wir etwas denken. Letztendlich ist es das, was unsere Freiheit ausmacht: Tun zu können, was wir tun wollen. Freiheit besteht damit fort, wenn auch mit einem anderen Verständnishorizont.

Vorrang der Empfindung
Die rationale Erkenntnis der mangelhaften Willensfreiheit hindert den Menschen nicht an der Empfindung des freien Willens. Der Mensch kann geradezu eine Freude daran haben, die Ursachen des eigenen Denkens im Einzelfall nicht erkennen zu können oder erkennen zu müssen, weil hierdurch eine Ablenkung vom intuitiven, emotionalen Handeln vermieden wird. Die Welt ist in vielen Bereichen nicht so, wie wir sie empfinden. Musik, Empfindung der Natur, die Empfindung des Schönen, all diese Eindrücke werden durch das Verstehen nicht getrübt, also sollte es bei der Empfindung des freien Willens nicht anders sein. Musik etwa ist nichts anderes als Schallwellen, die wir letztendlich nur als „schön“ empfinden, weil bestimmte Tonveränderungen in der menschlichen Stimme Emotionen übermitteln und erzeugen und wir daher eine angeborene Veranlagung für bestimmte Tonlagenveränderungen besitzen. Dieses physikalische Verständnis ändert aber nichts am Musikgenuss. Der Genuss eines Bildes ist nichts anderes als das Einwirken von Lichtwellen/Lichtquanten auf unsere Netzhaut, die lediglich aufgrund wertender Verarbeitung durch unser Hirn in einer emotionalen Empfindung münden.

Zu weiteren Lösungsansätzen hinsichtlich des Auseinanderfallens von Empfindung und rationaler Erkenntnis gibt es einen weiteren Abschnitt.

Die Erkenntnis des kausalen Willens kann in der Diskussion über das Strafrecht und die Psychologie und Psychiatrie verwendet werden und ist auch sozialwissenschaftlich von Bedeutung. Es braucht sich also niemand zu beschweren, mit deratigen Argumenten konfrontiert zu werden, der sich mit diesen Themen befasst, denn es gehört schließlich zur Thematik dazu.