Kollektive Verantwortung der Deutschen als Tätervolk

Inhalt
1. Kollektivverantwortung
2. Beispiele
3. Gesellschaftliche Relevanz

1. Kollektivverantwortung
Unter kollektiver Verantwortung versteht man die Zuschreibung von Schuld auf eine Gruppe für die Taten nur einzelner Personen. Unter dem Gesichtspunkt der Wirkung einer Strafe im Sinne der Prävention hat die kollektive Verantwortung nur insoweit überhaupt einen entfernteren Sinn, als der Einzelne dieser Gruppe die Möglichkeit hatte und in Zukunft hat, auf die Gruppe im Sinne der Verhinderung solcher Taten einzuwirken oder wenn ein in dieser Richtung zu erwartender Einwirkungsversuch einen Präventionseffekt aufweist.

Der Gedanke der Kollektivverantwortung läuft dem grundlegenden Verständnis von Recht und Unrecht einer freien Gesellschaft zuwider, weil es die Freiheit einzelner Individuen verneint: Der Einzelne wird nicht mitbestraft, weil er Beihilfe zur Tat geleistet hat oder eine unterlassene Hilfeleistung begangen hat oder einen Erfolg unzulässig fahrlässig mitverursacht hat, sondern einzig und allein, weil er Teil dieser Gruppe war. In die Freiheit wird hier eingegriffen, weil damit die Teile einer Gruppe als Werkzeugen der Strafgewalt benutzt werden. Der Einzelne Nichttäter wird als Unschuldiger zur Rechenschaft gezogen, obwohl von vornherein fest stand, dass sein Verhalten ansich nicht verwerflich war.

Dementsprechend gibt es in keinem Rechtsstaat Strafregelungen, in denen Kollektivverantwortung verankert ist. Bestraft wird nur Täter, Anstifter, Helfer, unterlassene Hilfeleistung oder Fahrlässigkeit, d. h. Mitverursachung unter Vorhersehbarkeit des Erfolges und einer rechtlichen Pflichtverletzung. Für die bloße Mitgliedschaft in einer Gruppe, die ansich rechtmäßig und legitim oder gar unverschuldet ist, kann keiner unschuldig zur Rechenschaft gezogen werden.

Der Rückgriff auf Kollektivverantwortung ist typisch für Regime, in denen die Strafführenden so weit überlegen sind, dass sie sich auch ein Unrechtsverhalten erlauben können.

2. Beispiele
Beispiele von (illegitimer) Kollektivverantwortung, die vielleicht schon der eine oder andere erlebt hat, sind die Bestrafung einer Schulklasse für die Handlungen Einzelner oder die Bestrafung von Gruppen innerhalb der Bundeswehr für die Gesamtleistung einer Gruppe, die sich am Maß des Schwächsten misst.

Als besonders ungerecht werden solche Bestrafungen empfunden, weil hier willkürlich Unschuldige bestraft werden oder weil hiermit indirekt ein Verhalten bestraft wird, dass ansich erlaubt ist. Ein Beispiel wäre auch die Bestrafung einer Schulklasse, weil niemand bereit ist, die einzelnen Täter zu denunzieren, wozu ansich niemand verpflichtet ist.

3. Gesellschaftliche Relevanz
Unrechtsbeispiele willkürklicher und unrechtmäßiger Kollektivverantwortung finden sich mehrfach in der Nazizeit. So wurden die als Juden eingeordneten Menschen nicht nur wegen ihrer Rassenzugehörigkeit eingesperrt und getötet,  sondern die Maßnahmen auch unter dem Gesichtspunkt der Kollektivverantwortung begründet, weil „die Juden“ für dieses oder jenes verantwortlich gemacht wurden.

Kaiser Wilhem II. Ebenso hat sich aber der Nazionalsozialismus die gesamten 20ger Jahre hindurch zu Nutze gemacht, dass „die Deutschen“ für den 1. Weltkrieg gerade zu stehen hatten, durch Reparationszahlungen und Gebietsverluste etc - obwohl das Kaiserreich alles andere als eine Demokratie gewesen war und zudem die Person des Kaisers und seine Fähigkeit zur Führung eines Krieges ohnehin jeder demokratischen Legitimation entzogen war. Das Volk als Gesamtheit hätte sich nur durch einen Putsch vom Kaiser befreien können. Genau darauf gründete das Unrechtsempfinden für die Strafen für den 1. Weltkrieg.

Für den 2. Weltkrieg war die Kollektivverantwortung in der Nachkriegszeit nicht mehr so sehr wegen der 56 Millionen Toten des Krieges relevant, sondern insbesondere wegen des Völkermords an den Juden. Zunächst war diese Kollektivverantwortung darauf gegründet worden, dass ein hoher Anteil der Bevölkerung laut Nazi-Propaganda die Politik Hitlers gebilligt hatte und die Menschen Kenntnis hatten von der Verfolgung der Juden. Für die ersten Nachkriegsjahre war dies nachvollziehbar, weil eine Meinungsänderung zum Nationalsozialismus auch von innen kommen musste, aus Deutschland selbst, weil nur so ein Vertrauen der Nachbarstaaten in Deutschland wieder langsam aufgebaut werden konnte. Auch war in diesen Jahrzehnten die Kollektivverantwortung differenziert worden, denn es gab auch damals bereits genügend Menschen - insbesondere unter den Sozialdemokraten - die sich nichts zu schulden hatten kommen lassen und auch innerhalb Deutschlands quasi einen Geschädigtenstatus hatten. Auch fühlte sich der überwiegende Anteil der Bevölkerung in irgendeiner Form mitschuldig, weil sie sich zu einer Unterstützung Hitlers hatten hinreißen lassen.


Mit den Jahren traten allerdings zwei Entwicklungen ein: Einerseits wurden angesichts der guten wirtschaftlichen Entwicklung des Landes auch zunehmend Rufe nach finanziellen Entschädigungen der Einzelpersonen auf Staatskosten laut, die wiederum ein Interesse an einer Schuldzuschreibung der Deutschen für die Politik Hitlers erforderten. Andererseits waren bis zum Jahr 2010 nur noch ein eher kleinerer Anteil von Menschen überhaupt am Leben, die damals in einem verantwortlichen Altern als Täter in Frage kamen.

Dementsprechend ist auch jeder Sinn für eine Kollektivschuldzuschreibung für das heutige deutsche Volk - das nur noch eine minimale personale Identität mit dem damaligen Volk aufweist - im eigentlichen Sinne bis auf ein Minimum geschrumpft. Es bleibt ein moralisches Rücksichtnahmegebot gegenüber den geschädigten Nachbarstaaten, den noch lebenden Geschädigten und den unmittelbaren Hinterbliebenen. Weiter bleibt die korrekte geschichtliche Darstellung eine Aufgabe, damit in Zukunft aus der Geschichte gelernt werden kann, ebenso wie wir aus den Verbrechen Stalins, dem 30-jährigen Krieg oder dem Mittelalter lernen können. Diesbezüglich weist Deutschland allerdings keine Sonderstellung auf, die Amerikaner können aus dem Nationalsozialismus ebenso lernen, wie wir aus dem Völkermord an den Indianern oder Hiroschima und Nagasaki lernen sollten.

Jede Form von Schuldzuschreibung oder Verantwortungszuschreibung an die heutigen Deutschen aber oder gar Bezeichnung eines Volkes als „Tätervolk“ läuft auf eine unberechtigte Kollektivschuldzuschreibung und Diskrimnierung hinaus. Ebenso moralisch illegitim ist eine Gesinnungspolizei in Form von Presse und Politik, die mit erhobenem Zeigefinger faktisch verbieten soll, was der Staat nicht verbieten kann und durch welche die Idee der Kollektivschuld weiterhin am Leben erhalten werden soll.

Rücksichtnahme bedeutet nicht die Verantwortung für die Tat, sondern eine zwischenmenschliche Verpflichtung des Anstandes.

Nachtrag:
Jüngst wurde von dem einzigen polnischen Beteiligten an der Einrichtung des Vertriebenenzentrums der Austritt erklärt, weil er nicht daran mitwirken wolle, die Polen zum „Tätervolk“ zu stempeln. Bedauerlich, denn die Zusammenarbeit wäre gerade eine Gelegenheit gewesen, die moralische Legitimation der Kollektivschuld aufzuarbeiten, ggf. in Frage zu stellen und den gegenseitigen Umgang zu normalisieren.
23.12.2009

Weiterer Nachtrag:
In den 10 Geboten wird der Kollektivschuldgedanke ausdrücklich transportiert:
„… Bei denen, die mir [Anm.: es spricht die Bibelgottheit] Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; …“

Auch unter den Kirchenfürsten gibt es jedoch auch Gegner der Kollektivschuld, sofern es um sie selbst geht. Der regensburger Bischof meinte in einem am 28.01.2010 veröffentlichten Interview bei rp-online: „… Es ist doch eigentlich Standard des Rechtsstaates, dass jeder nur für seine eigene Tat Verantwortung zu übernehmen hat und nicht auch derjenige, der in derselben Straße wohnt, zur selben Familie oder Firma gehört. …“


In dem Interview handelte es sich zwar um ein rhetorisches Argument, um von organisatorischer Verantwortung der katholischen Kirche abzulenken, jedoch liegt darin die Anerkennung enthalten, dass der Kollektivschuldgedanke mit dem heutigen Rechtsempfinden unvereinbar ist.